Die Esoterik und ich – Teil I
„Sagmal, du entsprichst ja immer mehr dem Klischee einer Esotante“, sagte sinngemäß ein Freund von mir, als ich bei einem Treffen meine Spindel auspackte und an der Adventureschaf-Wolle weiterspann.
Bild: austinevan / flickr.com
Jetzt frage ich mich zwar: Was hat diese archaische Form von Handarbeit mit Esoterik zu tun? Primär nämlich nichts.1 Aber ich fragte mich auch: Bin ich eigentlich eine Esotante? Immerhin wird mein Blog unter dem Begriff „Runenkreis“ ziemlich oft gefunden, und ich habe ja auch mal was mit Runenmotiven gestickt.
Ich kann zu diesem Anwurf nicht ohne weitere Differenzierung ja oder nein sagen, denn: Das hängt sehr davon ab, was man unter dem Begriff „Esoterik“ versteht.
Wenn das Wort fällt, denken viele wohl an langatmig-nebulöse Horoskope, die einem am Jahresbeginn im Grunde erzählen, das nächste Jahr sei ganz toll. Oder auch weniger toll, aber wenn man schlau sei, könne man viel draus lernen. Oder sanftäugige Medien, die einem Botschaften von allen Engeln channeln, die jede noch so apokryphe christliche Schrift hergibt. Oder Mehrwertdienstenummern, wo ich mir für einen stolzen Minutenpreis die Karten legen lassen kann. Wer selbst Hand anlegen will, kann sich in der esoterischen Buchhandlung ein Set von 25 Plastikrunen2, zusammen mit einem kleinen Deutungsbüchlein, kaufen und sich damit selbst Aussagen zusammenwürfeln, die so beliebig sind, daß sie irgendwie immer passen – ganz wie handelsübliche Horoskope in Zeitungen. Garantiert ohne Risiko der schockierenden Begegnung mit archaischen Kulturen und ohne mühsam draußen herumlaufen, Holz suchen und das dann mühsam bearbeiten zu müssen. All das hat eins gemeinsam: Es ist gnadenlos kommerzialisiert.
OK: ich war in den letzten Absätzen ein wenig polemisch. Sehen wir uns doch einmal an, was religionswissenschaftliche Lexika zu diesen Themen sagen. Etwa Hartmut Zinser in der renommierten „Religion in Geschichte und Gegenwart“: Unter den Begriff der Esoterik fallen ihmzufoge Schriften, Lehren und Praktiken, die entweder
„1. mit erklärten Lehren der Kirchen in Widerspruch stehen, 2. soweit sie sich als Wissen verstehen, das mit den Erkenntnissen und Methoden der Wissenschaften nicht zu vereinbaren sind oder 3. was auf dem Markt der Esoterik als esoterisch verkauft werden kann.“3
In der Antike seien mit diesem Begriff Schriften bezeichnet worden, die nur für Eingeweihte bestimmt waren. Das Interesse an einer Geheimhaltung sei damals durch zwei Faktoren motiviert gewesen: Erstens hielt man dieses Wissen für „zu schwierig für die Masse“, zweitens hielt man eine allgemeine Kenntnis für eine Gefahr für die allgemeine Ordnung.4 Heute werde, so Zinser, auf dem esoterischen Markt alles angeboten, was von etablierten Religionen als heterodox oder häretisch abgelehnt werde oder sonstwie ausgegrenzt sei, dgl. auch von wissenschaftlicher Seite (besonders auf dem Gebiet der Medizin) ausgegrenzte Vorstellungen. Moderne Esoterik, so Zinsers negatives Fazit, sei ein schwankendes Gemisch aus Wissen und Glauben, der sich nicht als Glauben verstehen wolle und für seine Theorien die von den Wissenschaften erkannten Grenzen nicht wahrhaben wolle. Und schließlich:
„Die Faszination an der Esoterik entspringt den Wünschen und Ängsten der Menschen, die sich mit der Beschränkung der Wissenschaft nicht abgeben wollen und nicht mehr die Bereitschaft zum Glauben haben.“5
Oder das „Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen“, wo Bernhard Grom das Phänomen schreibt, charakteristisch für die neuzeutliche Esoterik sei ein „bewußtes Absehen von Wissenschaftlichkeit und Rationalität“, sie „verläßt sich ganz auf eine nur dem ‚Eingeweihten‘ zugängliche ‚höhere Erkenntnis'“. An die Wissenschaft wird Grom zufolge der Vorwurf erhoben, materialistisch und intuitionsfeindlich zu sein, an die christlichen Kirchen gehen die Vorwürfe der Verkopftheit, des Dogmatismus und der Verrechtlichung. Esoterik setze dagegen Ganzheitlichkeit und „lebendige Bewußtseinsentwicklung“.6
Dann gibt es natürlich noch Materialisten, die sich einzig und allein an das halten wollen, was die Naturwissenschaft beweisen kann und alles andere in Bausch und Bogen als irrationalen Unfug ablehnen.
Was aber, wenn ich mich weder mit den Positionen der etablierten Religionen noch mit der total materialistisch-rationalen anfreunden kann? Bin ich dann eine, die, wie Zinser urteilt, die Beschränkungen der Wissensschaft nicht akzeptieren will, aber zu faul zum Glauben ist? Und ist der Lebenshilfe- und Psychomarkt, auf dem naturgemäß alles warenförmig verhandelt wird, das ganze Bild, kann man die teure Wahrsagehotline mit dem privaten Wicca-Zirkel in einen Topf schmeißen? Dazu mehr im zweiten Teil.
- Spindeln spielen allerdings in einigen Märchen eine magische Rolle. Wäre interessant, dem mal nachzugehen. ↩
- eine vollkommen ahistorische Erfindung: die 25., leere Rune wäre, denke ich, den historischen germanischen Stämmen nicht eingefallen, wie überhaupt der Gebrauch von Runen als Orakel nicht belegt ist ↩
- Hartmut Zinser, Art. „Esoterik“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 2. C-E / hrsg. von Hans Dieter Betz …. – 4., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1999, Sp. 1580-81 ↩
- Topoi, die mitunter heute noch am Werk sind, z.B. in Verschwörungstheorien. ↩
- Zinser, a.a.O. ↩
- Bernhard Grom, Artikel „Esoterik“, in: Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen : Orientierungen im religiösen Pluralismus / hrsg. von Harald Baer … – Freiburg im Breisgau (u.a.) : Herder, 2005, Sp. 330-32 ↩