Die Esoterik und ich, Teil II: Sind Neuheiden Esoteriker oder Okkultisten?
Wenden wir uns nochmal einen Augenblick der Zinserschen Definition von Esoterik zu: Esoterik als das von Wissenschaften und Kirchen Ausgegrenzte. Das korreliert mit der Definition des Okkulten, wie sie Karl Hoheisel in der RGG bietet: „alle von den etablierten Wissenschaften (noch) nicht geklärten Erscheinungsformen von Natur und Seelenleben“; umgangssprachlich heißen okkult überwiegen paranormale Phänomene, bei denen ein dämonischer oder diabolischer Ursprung unterstellt wird und denen deshalb etwas verruchtes anhaftet.1
Okkulte Praktiken sind, könnte man folgern, einfach das, was von der Wissenschaft nicht erklärt wird und aus dem Mainstream der religiösen Praxis herausgefallen ist. Interessant ist allerdings eine Kleinigkeit, die Hoheisel hinzufügt: „Im Kern analoge Praktiken und Vorstellungen“ (zum westlichen Okkultismus) sind in Natur- und Stammesreligionen „infolge unschärferer Grenzen des ‚Normalen'“ integrale Bestandteile der jeweiligen Traditionen.2
Wenn überhaupt Glauben in den vielen neuheidnischen Spielarten irgendwie definiert und kodifiziert wird, dann sind Magie und Divination, dann sind Schafgarbenorakel und Kartenlegen innerhalb dieser Traditionen Bestandteil des „Normalen“. „Magische“ Handlungen, die anderswo unter „okkult“ liefen, sind etwa bei Hexen3 Bestandteil der kultischen Praxis und werden nicht mit ausschließlich bösen Mächten in Verbindung gebracht, sondern mit dem Göttlichen (das seinerseits ein Schwarz-Weiß, ein dichotomes Gut/Böse nicht kennt). Nimmt man dieses heterogene Feld von Weltanschauungen als Religionen ernst, dann ist nach religionswissenschaftlichen Definitionen schwerlich etwas esoterisch oder okkult, und viele Heiden, die ich kenne, möchten nicht mit dem in einen Topf geworfen werden, was sich auf Esoterikkongressen und unter Astrologen-0900-Nummern tummelt.
Warum der ganze Aufriß mit der Spiritualität?
Der Knackpunkt liegt für mich im Bedürfnis, eine Verbindung zum Mehr-als-materiellen aufzubauen – das paßt durchaus zur New-Age-Definition von Spiritualität, wie sie Ferdinand Rauch bestimmt: Im Sinne der „neuen Religiosität“ sei Spiritualität ein inflationär verwendeter, unscharfer Begriff, der die „Suche nach Sinn und Ziel eines Daseins, das sich nicht in somatischen und physischen Abläufen erschöpft“ sowie Selbstverwirklichung (und Sinnschöpfung?, d. Verf.) über das Materielle hinaus bedeutet.4
Es gibt dafür mehr Möglichkeiten als entweder im etablierten Sinn religiös oder ganz atheistisch zu sein, und ich muß für dieses Mehr auch nicht auf kommerzialisierte Formen von Esoterik zurückgreifen.
Es geht mir in dem, was ich in Ermangelung eines besseren Namens meine Spiritualität5 nenne, nicht um Wissen im Sinne von Welterklärung. Dafür kann ich mich nämlich durchaus an die Wissenschaft wenden. Es geht mir auch nicht nur um das Wunderbare; das finde ich durchaus mal in Hubble-Bildern, in einem Fantasyfilm oder auch einer Mahler-Symphonie. Es geht mir auch nicht um Glauben und „Wahrheit“. Und die Frage, was mit mir nach meinem Tod passiert – für viele ja eine der zentralen Fragen, wenn es um Religion geht – ist für mich auch eher sekundär. Es geht mir auch nicht um ein Regelwerk für ein gutes Leben. Das finde ich mit Einsatz von ein wenig Hirnschmalz auf rationalen Wegen auch. Zwar mag mein Heidentum meine Ethik und meine Art, über mich selbst zu denken, beeinflußt haben, Ethik ist aber für mich kein Motiv, religiös oder spirituell aktiv zu sein. Es geht mir nicht um Flucht vor dem Selber-Denken-Müssen in die Irrationalität (im Gegenteil: Daß ich mich ausgerechnet zu dieser Form von Spiritualität hingezogen fühle, bescherte mir sehr viel Denkarbeit), sondern eher um ein sowohl-als-auch, im besten Fall: Synergie zwischen ratio und nicht-rationalen Vermögen.
Es geht mir um eine lebendige, spürbare Verbindung zum Göttlichen. Dieses Göttliche kann sich durchaus für jeder und jedem in unterschiedlichen Bildern zeigen; für mich sind es hauptsächlich die der nordischen Mythologie. Das bedeutet nun nicht, daß ich sage: „Die Evolutionstheorie ist doch Mist, die Edda erklärt das doch ganz anders.“ Das wäre eine fundamentalistische Mißdeutung von Mythos als buchstäblicher Wahrheit, auf dem falschen Anwendungsgebiet noch dazu.
Was meine ich mit „Anwendungsgebiete“? Das, worum es mir geht, ist eine Tiefendimension in meinem Leben, die mich immer wieder spüren läßt, daß ich über materielle und soziale Mechanik hinaus mit etwas verbunden bin, das größer als ich und mehr als menschlich ist. Etwas, das für andere vielleicht Mutter Erde, das Tao, das Universum oder Gott heißt. Die manifestiert sich zum Beispiel in Momenten wie denen, als ich vor einigen Jahren mit Freundinnen auf dem Land am Lagerfeuer saß und stundenlang nur ergriffen die Sterne anstarrte (man sah die Milchstraße, in Berlin sieht man vielleicht mal ein paar helle Punkte am Nachthimmel). In dieser Dimension haben mythische Bilder und Gestalten ihren Platz und ihre Aufgaben. Zwischen dieser Dimension und meiner alltäglichen Wirklichkeit gibt es Wechselwirkungen, doch jede hat ihr „Aufgabengebiet“ und ihre ihr angemessenen Modi des Denkens und Handelns.
Der Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft, der immer wieder beschworen wird, erscheint mir insofern in unserer heutigen Zeit als falscher und unnötiger. Wenn etwa ein Evolutionsbiologe über die Unmöglichkeit, daß Engel als biologische Wesen existieren, referiert, dann erscheint mir das unabhängig davon, ob ich die Möglichkeit, daß Engel überhaupt existieren, in Betracht ziehe, lächerlich und verfehlt; wenn Esoteriker versuchen, Esoterik (pseudo)wissenschaftlich zu legitimieren, wird es peinlich und gleitet nicht selten in paranoide Verschwörungstheorie ab.
Es gibt Menschen, die vollkommen areligiös und unspirituell glücklich sind. Mir fehlt ohne diese Dimension etwas.
Eine weitere Klarstellung: Modernes Heidentum tendiert in den meisten Fällen dazu, der persönlichen Erfahrung, dem Erleben einen großen Raum zu lassen. Je nach „Denomination“ variiert das Gewicht der Erfahrung – ein Chaosmagier wird vielleicht weniger danach fragen, ob etwas historisch gesichert ist, und sich mehr auf sein persönliches Erleben und „das, was funktioniert“, fokussieren, als ein archäologisch sehr interessierter Anhänger des Hellenismos. Auch das Verhältnis zu Eklektizismus und Synkretismus variiert. Gemein ist diesen Richtungen meines Erachtens, daß die ausgesprochene Orientierung an einem „Heiligen Buch“, wie ich sie in den abrahamitischen Religionen sehe, vollkommen fehlt (wie denn: ein „heiliges Buch“ gibt es selten überhaupt, wenn auch manche versuchen, die Edda dazu hochzustilisieren) und die individuelle Arbeit, aus vielleicht vorhandenen Puzzlesteinchen ein Weltbild zu bauen, Bestandteil der heidnischen Praxis ist. Denn vorgefertigt gibt’s das meistens nicht.
Bin ich eine Esotante? Die Frage kann ich ja eigentlich schon verneinen, aber: zur Kritik der Esoterik habe ich dann doch noch etwas zu sagen. Dazu mehr in Teil III.
- Karl Hoheisel, Artikel „Okkultismus“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart : Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. – 6. N-Q / hrsg. von Hans Dieter Betz …. – 4., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 2003, Sp. 498-99 ↩
- ebd. ↩
- im Sinn einer spirituellen Bewegung derer, die sich heute als Hexen bezeichnen ↩
- Josef Weismayer, Ferdinand Rauch, Artikel „Spiritualität“, in: Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen : Orientierungen im religiösen Pluralismus / hrsg. von Harald Baer … – Freiburg im Breisgau (u.a.) : Herder, 2005, Sp. 1231-33 ↩
- „Religion“ hat noch viel mehr Konnotationen, die auf meine Praxis einfach nicht passen, vergleiche diesen Artikel von Martin Marheinecke: http://martinm.twoday.net/stories/4166612/ ↩
Na endlisch schreibt jemant etwas GUTES über den Okkultismus! Ich hatte ohnehin genug von diesem christlichen Hass!
p.s. Sa Striboga!
Nun, „was Gutes“ schreibe ich da strenggenommen nicht. Heidnische magische Praktiken können meiner Definition nach eigentlich nicht okkult sein.