Musik mit Pinguin III: Exkurs über Gehörbildung
Der nächste Artikel in meiner kleinen Reihe über Musik mit Linux wird sich mit einem Thema befassen, unter dem sich viele nichts vorstellen können. Darum im Vorfeld eine Klärung: Was ist Gehörbildung?
Bild von Andrea & Stefan / flickr
Gehörbildung, so wie ich sie verstehe, umfaßt mehrere Fähigkeiten: Zum einen, musikalische Strukturen mit dem Gehör zu erfassen, zum anderen das, was ich höre, in musiktheoretischen Begriffen benennen zu können – und umgekehrt: mir einen bestimmten, in Begriffen der Musiktheorie beschriebenen Sachverhalt oder Noten, die ich vor Augen habe, als Klang vorstellen zu können.
Absolutes und relatives Gehör
Was ist eigentlich das absolute Gehör, das musikalische Laien sich als etwas unglaublich Tolles vorstellen? Klassische Musiker benutzen diesen Ausdruck für das (in unseren Landen bei Erwachsenen seltene) Phänomen, daß jemand die absolute Tonhöhe eines Tones ohne „Referenzton“ benennen kann. Erklingt also ein C-Dur-Dreiklang, kann jemand mit einem absoluten Gehör sofort sagen: ich höre ein c, ein e und ein g. Das absolute Gehör bedeutet nicht, daß jemand auch gleich Strukturen benennen kann; im Beispiel mit den C-Dur-Dreiklang kann er also nur sagen, daß es ein Durdreiklang ist, wenn er die Struktur eines Durdreiklangs kennt, die Intervalle zwischen c, e und g als eine große und einen kleine Terz identifizieren kann und daraus ableiten kann, daß es ein Durakkord ist.
Das absolute Gehör kann sogar Nachteile haben: Es ist nämlich auf einen „Referenzton“ (meist den Kammerton a‘) „geeicht“, es setzt eine bestimmte Note mit einem festen Hertz-Wert1 gleich. Unsere Notenschrift ist aber ein Zeichensystem, das auf Konventionen beruht, und unser Kammerton war nicht zu allen Zeiten gleich – Instrumente werden heute merklich höher gestimmt als noch vor 250 Jahren.
Praktisches Beispiel: Eine Gehörbildungsdozentin, die mich unterrichtete, hatte ein absolutes Gehör, das auf den Kammerton a’=440Hz „geeicht“ war. Bei historischen Aufführungen Alter Musik, wo der Kammerton im Verhältnis zu unserem heutigen u.U. einen guten halben Ton tiefer liegt – um die 415Hz – hörte sie ein gis, wo ein a gespielt wurde. Ich stelle mir sowas verdammt lästig vor.
In der Gehörbildung geht es ausschließlich darum, das relative Gehör zu schulen. Denn um die Beziehung zwischen a und e als Quinte zu erkennen, brauche ich nicht zu wissen, um welche Töne es sich genau handelt. Das ist zugleich eine Art musiktheoretisches Gehirnjogging: um z.B. eine Septakkord-Umkehrung, die ich höre, in Tönen niederschreiben zu können, muß die „Berechnung“ vom bekannten Ton aus hinreichend schnell gehen; um einen Akkord anders als aus dem reinen Gefühl heraus benennen zu können2, muß ich jederzeit wissen, welcher Akkord was für eine Struktur hat.
Gehörbildung ist (musik)kulturspezifisch
Gehörbildung ist immer auf eine bestimmte Musiktheorie bezogen, die für jede Musikkultur spezifisch ist. Ich kann zum Beispiel mit meinem klassisch trainierten Gehör in einer Rockband nicht so viel anfangen, noch weniger im Jazz; und wollte ich eine Expertin in indischer Musik werden, müßte ich mein Gehör vollkommen neu schulen und gleichzeitig die dahinterstehende Musiktheorie lernen.
Schon in der Harmonik der Renaissancemusik, die noch ganz anderen Gesetzen folgt, kann ich nicht mehr auf ein harmonisches Gehör zurückgreifen, das an Schumann und Beethoven trainiert ist, sondern muß mich in diese spezifische Harmonik eigens „einhören“.
Gehörbildungssoftware
Gehörbildung allein zu üben, ist ohne Computer verdammt schwierig, wenn man nicht eine Gruppe oder einen Lehrer hat, mit denen man mehrmals pro Woche trainiert. Denn Gehörbildung ist etwas, das man, wie ein Musikinstrument, am besten jeden Tag übt – einmal die Woche eine Unterrichtseinheit ist von sehr beschränktem Nutzen. Wie gut, daß es dafür mittlerweile Computer gibt.
Hier sind einige Programme für die Gehörbildung für Windows und Mac:
Die gehobene Klasse
– Earmaster habe ich einmal getestet, das macht richtig Spaß! Die Testversion ist 21 Tage lang voll funktionsfähig. Unter den kostenpflichtigen Programmen bislang mein Favorit.
– audite! kommt an den Funktionsumfang von Earmaster ebenfalls heran.
Die Mittelklasse
– audilab Das Interface war damals, als ich damit gearbeitet habe (2005/06), ein wenig altbacken, aber überschaubar und gute Trainingsfunktionen; es kann jedoch keine Melodiediktate. (Ich habe nicht geprüft, ob das Programm seitdem weiterentwickelt wurde.)
Und für Linux? Da gibt es ein hervorragendes Open Source-Programm: solfege – das sieht zwar nicht ganz so schick aus wie Earmaster, es ist nicht so übersichtlich, aber unter der Haube steckt eine Menge und die Übungsvielfalt ist riesig. Von solfege gibt es auch eine Windows-Version, die ich mangels Windowsrechner, auf dem ich schalten und walten kann, wie ich will, nicht getestet habe. Diesem Programm widme ich einen eigenen Artikel; ob Earmaster, audite! und audilab unter wine lauffähig sind, bliebe ebenfalls noch zu testen. Haltet die Ohren auf 🙂
Klasse, das ist richtig schönes Material! Dankeschön!
Du schriebst: „Ich kann zum Beispiel mit meinem klassisch trainierten Gehör in einer Rockband nicht so viel anfangen…“
Das geht mir ganz anders. Rockmusik ist ja eine Facette der westlichen Musik und ihres tonalen Systems.
Wobei Du natürlich recht hast mit den unterschiedlichen Feinheiten und Schwerpunkte der diversen Stile.
Ich glaube außerdem, daß jede Art der Gehörbildung eine gute Basis für den Umgang mit Musik (egal welchen Stils) ist. Das zeigt sich besonders, wenn man über den europäischen Tellerrand hinausschaut; in Asien spielt sich z. B. vieles im mikrotonalen Bereich ab, und das muß man dann natürlich erst mal lernen. Aber sogar dabei hilft einem das mitgebrachte Referenzsystem, egal welches es ist. Und Grundtönigkeit ist ja doch irgendwie ein „grund-menschliches“ Phänomen… 😉
Das mit dem absoluten Gehör wird leider immer noch zu sehr mystifiziert. M. E. ist das kein angeborenes Phänomen, sondern durchaus trainierbar. Eine befreundete Violinistin hat sich diese Fähigkeit angeeignet; ich konnte das über Jahre hin beobachten. Faszinierend.
Das mit dem absoluten Gehör – ja, ich habe auch von Musikern gehört, die sich das antrainiert haben… Der Wikipedia-Artikel dazu weiß das interessante Faktum zu berichten, daß Musikstudenten, in deren Muttersprachen Tonhöhen bzw. Betonung eine Rolle spielt, wesentlich öfter absolut hören als Europäer. Aber ich würde immer wieder betonen, daß ohne ein gutes relatives Gehör Absoluthören wenig bringt.
Eine gute Grundlage ist ein gut gebildetes Gehör natürlich für jede Musik und die Spezifik dadurch auch wieder relativ… Auf dem Various Voices Festival letztes Jahr haben wir in einem Workshop über bulgarisches Singen in einer großen Gruppe innerhalb von eineinhalb Stunden die Grundlagen der Gesangstechnik und ein dreistimmiges Lied einstudiert. Die Teilnehmer waren allesamt erfahrene Chorsänger.
Vielleicht ist meine Band-Erfahrung auch mehr unterschiedlichen Arbeitsweisen (meine Bandkollegen hatten null musiktheoretische Bildung und eine vollkommen andere Arbeitsweise) und der leidigen Überlautstärke im Probenraum geschuldet…
Nach dem Artikel auf der Aett-Website kam mir noch ein Nachgedanke — nämlich: Daß es vor allem eine Frage des Fokus‘ ist, der meine in diesem Fall der des, überspitzt ausgedrückt, Fachidioten, Deiner eher ein weiterer.
Vielleicht verbindet die Musiken dieser Welt mehr, als sie trennt, und ich stehe immer noch unter dem Eindruck der feinen Unterschiede, die sich unter Umständen doch sehr groß und für weniger Geübte im musikalischen Weltenwandern einschüchternd anfühlen können, ich sage nur: Renaissance-Rhythmik.