Was singe ich da eigentlich? – Teil II
Dieser Text ist die Fortsetzung von „Was singe ich da eigentlich, Teil I„.
Daß ich überhaupt in einem Chor singe, verdanke ich einer Sache, in der sich canta:re von vielen anderen klassischen Chören unterscheidet: Unser Repertoire ist zum allergrößten Teil weltlich.
In anderen Chören habe ich meistens erlebt, daß christliche geistliche Literatur ganz selbstverständlich zum Repertoire gehörte. Nein, ich habe nie in einem Kirchenchor gesungen, daß ich das katholische ordinarium missae auswendig konnte, verdanke ich Schul- und Unichören. Nicht, daß ich etwas gegen geistliche Literatur hätte, aber ich habe ein Problem damit, die Bedeutung der Texte zu ignorieren. Jedem, der mir entgegenhält, daß diese Texte doch nicht so gemeint seien, zumindest in diesem Kontext (Konzerte, Festakte, …), möchte ich nahelegen, die mal durch sakrale Texte einer beliebigen anderen Religion auszutauschen oder auch durch politische Texte. Na? Immer noch sowas, das man genauso unverfänglich singen kann wie „la la la“?
Es ist auch hier das Unhinterfragte, die Selbstverständlichkeit, die dieses „Dazugehören zum Repertoire“ zum Problem für mich macht.
Es ist für mich als eine, die keine sakralen Texte einer Religion mit dem Anspruch, die allein seligmachende zu sein, singen mag und gleichzeitig immer wieder in einem kulturellen Bereich unterwegs ist, der jahrhundertelang so tief durchdrungen wurde vom Christentum und zu bedeutenden Teilen kirchlich finanziert wurde (und wird), schwer, einen gangbaren Weg zu finden. Überhaupt keine Klassik ist nämlich für mich auch nicht so wünschenswert.
Es ist zum einen das christliche Erste Gebot, das da ein Problem für mich darstellt. „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, besagt dieses Gebot. Ich respektiere das, ehrlich, obwohl ich es für mich als ungültig betrachte. Der Gott, der das von Christen verlangt, ist nicht meiner – und darum ist das für mich auch unproblematisch, solange ich nicht suggeriere, ich würde diesen Gott verehren.
Ich bin daher für mich zu dem Schluß gekommen, daß ich eine gewisse Flexibilität an den Tag legen und auch mal ein geistliches Werk singen kann, wenn ich nicht irgendwie drum herum komme und wenn es nicht gerade ein zentraler liturgischer Text wie die Messe ist. Zwei Texte sind „hartes Tabu“ für mich: das Credo (das Glaubensbekenntnis) und das Vaterunser als zentrales christliches Gebet. Und mich an einem Gottesdienst aktiv zu beteiligen (nicht nur passiv, als Zuschauerin, dabeizusitzen), wäre für mich auch nur dann denkbar, wenn alle Beteiligten wissen, daß ich eine nicht-christliche Religion1 praktiziere.
An diesem Punkt wären sakrale Texte von nicht-monotheistischen Religionen für mich gar kein Problem. Ja, natürlich würde ich wissen wollen, was ein Text heißt, bevor ich ein buddhistisches Mantra singe oder ein Native American-Gebet. Und natürlich kann es immer sein, daß es auch da Gründe geben kann, warum ich einen Text nicht mag.
Zum anderen: Was meinen gelegentlichen Frust mit diesen vollkommen unreflektierten religiösen Handlungen als Bestandteil eigentlich säkular sein sollender Handlungen angeht, fühle ich mich verbündet mit Skeptikern, Laizisten und Atheisten, die fordern, daß Religion Privatsache sein soll. Und da wäre zumindest, wenn’s um Repräsentierkultur – säkulare offizielle Akte und Feierlichkeiten – geht, für mich angebracht, anzuerkennen, daß „wir verehren doch alle irgendein höheres Wesen“ mit Default-Modus christlich längst kein Konsens mehr ist. Da hätte ich dann auch ein Problem mit sakralen Texten egal welcher Religion. Ich belatsche Leute nicht mit meiner Religion und bin der Ansicht, daß in moderne öffentliche Zeremonien wie eine Schulfeier etc. Religion einfach nicht hineingehört. Wenn denn Feierlichkeit sein muß: Es gibt dafür genug säkulare Ausdrucksformen.
Und ja: „Ist doch Latein, versteht doch kein Mensch“ zieht bei mir nicht. Ich verstehe Latein, zumindest gut genug für diese Texte, und würde ich maoistische Propaganda singen, könnte ich mich auch nicht dahinter verschanzen, daß das doch Chinesisch ist und das hier kaum jemand versteht.
Dazu lesenswert, wenn auch auf amerikanische Verhältnisse fokussiert: Christian Privilege Checklist
- die nenne ich in Ermangelung eines besseren Begriffes so, siehe Martins Artikel „Die alten Germanen hatten keine Religion“ ↩
sehr konsequent, dein verhalten und denken. warum das so selten statt findet? die menschen wollen sich nicht konfrontieren mit oder gegen etwas. sie wollen in einem chor ein wenig gesellig sein und ein wenig spaß haben. das, was du beschreibst, ist für die meisten menschen zu unbequem. und das macht mich sehr traurig. es scheint alles so egal zu sein, es sei denn, jemand „will einem an´s leder“. bis dahin: warum texte verstehen, warum eine sprache verstehen, warum überhaupt etwas verstehen wollen, wenn ich wie ein lemming glücklich und zufrieden leben kann. wäre es nicht schöner, wie ein mensch glücklich und zufrieden zu leben?