Hungrige Gespenster II: Gefühl zeigen?
Ein Argument, das in der Knutschdebatte der letzten Tage aufflammte: „Ja, aber wenn niemand mehr in der Öffentlichkeit Händchen hält oder knutscht, was für eine gefühlskalte Gesellschaft wird denn das dann?“ Dazu habe ich ein gewaltiges Aber, eigentlich zwei: erstens: wir leben in einer ziemliche emotions-inkompetenten Gesellschaft. (Dazu siehe mein Vorschlag unten.) Und zweitens: Gefühle finden nicht nur in Paarbeziehungen statt. Warum soll Zärtlichkeit und körperliche Nähe eigentlich nur im Paket mit romantischen Beziehungen gehen? Und zählt zum Gegenteil von Gefühlskälte nicht auch, daß Gefühle gezeigt werden, die nichts mit Zärtlichkeit für einen bestimmten Menschen zu tun haben? Die emotionale Palette ist nun mal viel breiter, hat viel mehr Schattierungen – und ja, viele Gefühlsregungen sind mit Tabus belegt, deren Ausprägung sich enorm geschlechtsspezifisch zeigt. Nehmen wir nur mal Wut: Wenn ich mal nur ein bißchen Wut zeige, erschrecke ich damit meine Umwelt – und dabei habe ich da vielleicht gerade mal angefangen. Wenn ich nur ein bißchen die Stimme hebe, noch nicht unter Einsatz des vollen Bühnenforte und noch bei weitem nicht auf dem Niveau eines ausgewachsenen Ki-ai, wird das oft schon als „richtig laut werden“ interpretiert. Meine Güte, was muß das befremden, wenn ich mal richtig losbrülle? Mal richtig wütend werde? Meistens bekommen Leute nämlich von meiner logarithmischen Drama-Kurve nur den Teil nahe dem Nullpunkt zu sehen. Und wieviel mehr würde einem Mann Laut-Werden zugestanden?
Gefühl zeigen. Das klingt nach etwas, das ein rational gesteuerter Mensch am besten vermeidet. Bullshit, sage ich: Gefühle sind nicht der Feind rationalen Denkens, das ist ein kulturell konstruierter und uns über Jahrtausende eingeimpfter Gegensatz. Irrationale Ideologien, geistige Erstarrung, zu enge Horizonte und wegerklärte Emotionalität halte ich für Feinde echter, produktivier Rationalität – und eine selbstsichere Rationalität muß Emotionen nicht wegerklären.
Mein Vorschlag: Statt Euch über Gefühlskälte zu beschweren, weil jemand auf hetero- und paarnormative Privilegien beim öffentlichen Zurschaustellen von Zärtlichkeit hinweist, bietet doch mal einer weinenden Person Trost an. Kuschelt mal mit Personen, mit denen Euch keine romantische Beziehung verbindet (Geschlechter egal, Konsens und daß sich alle Beteiligten dabei gut fühlen: notwendige Vorbedingung) – und wenn Euer/Eure significant other das mit jemand anderem tut, bringt es fertig, nicht eifersüchtig zu werden. Haltet es aus, wenn jemand wütend oder traurig ist. Lernt, ohne Scham zu weinen. Lacht in der Öffentlichkeit (auch stocknüchtern und alleine). Wertet eine wütende Frau* nicht als hysterisch ab und einen Mann*, der Trauer, Selbstzweifel oder Verletzlichkeit zeigt, nicht als Heulsuse.
Und: respektiert es, wenn Leute mit ihrer Emotionalität zurückhaltender sind.
Last not least: Pflegt, kultiviert und pflegt nicht-sexuelle, nicht-romantische Beziehungen: Freundschaften, Geschwister-Bindungen, gute Nachbarschaft, was weiß ich (daß mir da nicht genug einfallen will, werte ich als Symptom, wie verarmt auch mein gedankliches Repertoire an möglichen Kollektivitäten jenseits von Kernfamilie und Paarbeziehung ist).
Unter diesen Bedingungen – und WENN Homo- und Bisexuelle mit derselben Selbstverständlichkeit zärtlich miteinander sein können wie Heteros – könnten die Gefühle derer, die aus welchen Gründen auch immer ohne Partnerschaft leben, deren Begehren sich vielleicht unerfüllbar und unartikulierbar anfühlt, ihren Stachel verlieren.
Ach ja, und ich hasse knutschende Pärchen nicht. Viel Raum einnehmende Hetero-Performance in dem Selbstverständnis nach LGBTQ/queeren Räumen ist jedoch nochmal ein anderes Thema.
Zum Weiterlesen
Antje Schrupp: Mehr Körperkontakt! rabenschwatz: Berührung
huch! Toller Text! und danke für den Schrupp-Link!!! Hab bei beziehungsweise lange nicht mehr reingeschaut. Wie blöd ich doch bin, da sind so tolle Texte an mir vorbeigegangen. Und was ist jetzt das Manko? Ich hab keine, mit der ich das Thema mal vertiefen könnte, diskutieren… dabei finde ich es brennend aktuell.
alles Liebe
irka
Sehr gutes Statement!!!! Ich finde es auch sehr schade, dass Gefühle und Zärtlichkeit immer auf die Schiene „Das ist was für Zweierbeziehungen“ geschoben werden. Emotionen begleiten doch unser ganzes Leben und jede Art der Beziehung und da gehört das Zeigen der Gefühle doch mit dazu – oder sollte zumindest! Ich finde es herrlich, wenn ich Leute sehe, die Händchenhaltend miteinander durch die Straßen laufen. Und wenn jemand weint, braucht man nicht verstohlen zur Site zu blicken. Wenn einem nichts einfällt, man man zum Trost sagen könnte, dann nutzt die Kraft der Berührung: Ein Streicheln, eine leichte Umarmung sagt genug.
Hi Suse,
kurzes Aber:
Bitte nicht den ersten Teil ignorieren: http://ryuu.de/2012/07/hungrige-gespenster-i-ein-versuch-emotionswirrwarr-zu-verbloggen/
amen. zu allem. ja, genau das.
zu »Gefühle sind nicht der Feind rationalen Denkens, das ist ein kulturell konstruierter und uns über Jahrtausende eingeimpfter Gegensatz.«: ich kam in meiner therapie erst gar nicht dahinter, warum ich emotional im vergleich zu rational so sehr abwerte und meine rationalen qualitäten mir immer schon so viel wichtiger waren als meine emotionalen (generell das rationale nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen). inzwischen erkenne ich, dass das nicht etwas ist, was in meinem eigenen kleinen privaten leben total schief gelaufen ist, sondern dass ich einfach sehr gut verstanden und aufgenommen habe, was mir gesellschaftlich vermittelt wurde. tja. schöner scheiß.
Sehr guter Artikel! Ich stimme im Grunde allem zu, was du erwähnt hast. Allgemein ist unsere Gesellschaft sehr distanziert und emotionslos. Wenn ich unsere mit ein paar anderen Ländern vergleiche, dann muss ich feststellen, dass diese auch im Hinblick auf Fremde viel herzlicher, offener und damit also auch emotionaler sind. Da sollten sich viele mal eine Scheibe abschneiden!