Überleben im Niemandsland
tl;dr: In sozial beschissenen Situationen kann Introversion hilfreich sein. Und Kunst kann Überlebensstrategie sein.
In meinem letzten Post hatte ich von ein paar miesen Erfahrungen in meiner Kindheit und Jugend gesprochen. Und dann kam mir in den Tagen danach die Frage in den Sinn: wie habe ich das eigentlich überlebt? Ich schreibe nicht „unbeschadet“, denn das wäre unwahr. Es hat Spuren in meiner Seele hinterlassen, einige davon einschneidend, einige machen mir heute noch zu schaffen. Aber ich bin nicht in der Schule sitzengeblieben, ich habe keinen größeren Mist gebaut, keinen Unsinn mit Drogen gemacht und ich habe mich nicht selbst verletzt. Obwohl ich manchmal denke, daß ich so zwischen 13 und 15 recht knapp an einer Eßstörung vorbeigerutscht bin: ja, ich weiß, was Schlankheitsterror heißt.
Also, was hat mir erlaubt, das zu überstehen? Was hat mich damals stark gemacht?
Das erste: Zu hause war ein sicherer Ort. Zu dem Zeitpunkt, als die Mobbing-Geschichten aktuell waren, brannte es nicht auch noch zuhause. OK, ich habe meine Mutter zwischendrin als überlastet wahrgenommen – Alleinerziehenden-Situation plus Erwerbstätigkeit eben -, aber die Luft brannte nicht. Und meine Mutter stand hinter mir, sie hat mich damit nicht allein gelassen.
Dann: Ich hatte meine Gegenwelten. Spiritualität war die eine, die andere die Kunst. Ich bin damals recht oft mit meiner Mutter in die Oper und ins Ballet gegangen. Und ich habe viel Künstlerisches selbst gemacht. Musik, Malerei, Ballett. Die Musik war mir ein Ventil für Emotionalität, die bei anderen in Sex und Beziehungen wanderte. Es war nicht so, daß ich mir nicht gewünscht hätte, daß es auch für mich irgendwann mal funkt, aber in diesem sozialen Vakuum bestand einfach keine Gelegenheit dazu – ganz zu schweigen davon, daß ich einfach damals nicht darauf kam, ich könnte lesbisch sein.
Ich konnte mich immer schon gut mit mir selbst beschäftigen und hatte genug Welten in meinem Kopf, daß ich mir damit darüber hinweghelfen konnte, daß die sogenannte Realität so unbefriedigend für mich war. Ich lebte buchstäblich in anderen Welten als die Gleichaltrigen, und erst viel, viel später, im Studium, lernte ich, daß es Menschen gab, die in ähnlichen Welten lebten.
All das Negative, die graue Langeweile, das Ausgeschlossensein und zugleich, daß die Welt der anderen so wenig Reiz auf mich ausübte: ich mußte es nicht irgendwie ausdrücken oder verarbeiten, denn mein eigentliches Leben – das fand statt, wenn ich am Klavier saß und neue Stücke lernte oder wenn ich sang; in den Büchern, die neben meinem Bett lagen; an den langen heißen Sommertagen, die ich malend auf meinem Balkon verbrachte; wenn ich meditierend am Bach saß; manchmal auch in Theaterproben; wenn ich in der Bibliothek nach neuen Noten oder neuem Lesestoff recherchierte; wenn ich durchs Museum schlenderte und zu verstehen versuchte, wie Gemälde aufgebaut waren; in diesem magischen Moment, wenn ich im Theater saß und das Orchester anfing zu stimmen. Alles andere, diesen uneigentlichen Alltag, den konnte ich da einfach hinter mir lassen.
Es war auch in meiner Gymnasialzeit, daß die Nacht die Zeit wurde, die wirklich mir gehörte. Klar, alles Laute war verboten, nebenan schliefen meine Geschwister, meine Mutter geht früh ins Bett. Und auch meine Nacht war eigentlich um sechs Uhr morgens zu Ende. Aber diese Zeit, wenn alles um mich herum schlief, die nahm ich mir, zum Lesen, Malen, leise Klassik im Radio hören, Briefe schreiben. Nur eine Stunde, die mir allein gehörte. Ich bin auch heute noch so gepolt, daß ich Zeit für mich alleine brauche, um meine Batterien aufzuladen.
Heute bin ich dankbar für all die Möglichkeiten, die ich heute habe, Menschen zu finden, mit denen meine Welten sich berühren dürfen. Die „anderen Welten“, in denen ich lebte/lebe, sind heute nicht mehr nur Fluchtpunkt und Refugium, sondern potentiell auch Gegenentwürfe zu dem, was mir als „Realität“ präsentiert wird.
(Am-Rande-Kommentar:) Danke für den Begriff vom „uneigentlichen Alltag“ – ich weiß genau, was du meinst.