Halloween, Feiertage, Kommerz, Kritik und das ganz Andere
Der Artikel Christenmenschen gegen Kürbisköpfe gab mir heute mittag einen Impuls, mal über mein Ding mit Feiertagen und Kommerz grundsätzlich zu schreiben.
Nun bin ich in der Position von „weder noch, sondern etwas ganz anderes“, und ich laufe mit diesem „ganz anderen“ auch noch Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Aber dazu weiter unten.
An sich bin ich von Halloween ziemlich unbewegt. Es ist mir egaler als das bürgerliche Weihnachten, das mir schon mit ziemlich hoher Geschwindigkeit am Allerwertesten vorbeigeht. Ja, das Fest kommt in Mode, und in seiner jetzigen Form kommt es aus Amiland. Und weiter? Prozesse der Übernahme aus anderen Kulturen hat es immer schon gegeben und solange sie nicht in Form von cultural appropriation daherkommen – die vom Prozeß der einfachen Übernahme leicht unterscheidbar ist insofern, als es im Fall von cultural appropriation oft ein Machtgefälle zwischen der aneignenden und der Ursprungskultur gibt und das Übernommene dabei häufig grob entstellt und aus jeglichem Kontext gerissen wird – finde ich Übernahmen wie die von Halloween auch nicht irgendwie verwerflich.
Leute verkleiden sich und haben einen Heidenspaß daran, sich mit dem Gruseligen und Abseitigen zu beschäftigen: na und? Überhaupt finde ich den Faktor „Gruselspaß“ wichtig, denn sonst bleiben das Morbide und der Tod ja weitgehend aus dem heutigen Leben verdrängt. Und was den Faktor Angst angeht, ist Humor ja eine der besten und mächtigsten Gegenstrategien.
Was die Kommerzialisierung angeht: Das ist halt Kapitalismus. Kapitalismus wird alles, wo sich ein nennenswerter Markt draus machen läßt, vermarktbar machen und seine vermarktete Version wird mehr oder weniger oberflächlich wirken. Wer sich über den Halloweenkommerz aufregt, sollte das genauso mit Weihnachts- und Osterkommerz tun; beides Feste, die in ihrer verbreiteten Version kaum mehr ihre ursprüngliche religiöse Bedeutung zu tragen scheinen und scheinbar losgelöst von dieser eine allgemeine Bedeutung in der westlichen Kultur angenommen haben. (Interessant in dieser Hinsicht könnte z.B. sein, wie Weihnachten in Kulturen ohne nennenswerte christliche Geschichte adoptiert wird.) Denn als „Gegencheck“ könnte eins fragen: Warum gibt es z.B. keinen Pfingst- oder Himmelfahrts-Kommerz? Keinen Reformationstags-Kommerz?
Und wäre der Jahrestag von Yuri Gagarins Flug um die Erde ein kulturell bedeutsamer Feiertag, dann liefen am 12. April wahrscheinlich alle Leute in T-Shirts mit Gagarins berühmtem Konterfei herum, der Handel würde sich eine goldene Nase an Astronaut_innenkostümen und Spielzeugraketen verdienen und die Leute würden Torten essen, die dem Wostok-Raumschiff nachgebildet sind und ihre Wohnungen im Raumfahrtkontrollzentrum-Look dekorieren. Oder so.
Und nun zum versprochenen Twist des Weder-Noch-Sondern: Ich feiere nämlich tatsächlich einen „heidnisch-gällisch[sic!]-angelsächsischen Totenkult“1, bzw. habe den in mein ‚spirituelles‘ Tun mit eingebaut. Nur anders als das übliche Halloween.
Mein Totenfest wird Samhain genannt. Und es hat nur ganz oberflächlich was mit Halloween zu tun.
Im heidnisch-animistischen Weltbild, dem ich in spirituellen Dingen folge, sind die Toten nämlich nicht „weg“, in ein unerreichbares Jenseits abgeschoben. Vor allem die, mit denen ich persönlich verbunden bin – entweder, weil ihr Leben und ihr Werk mir in der einen oder anderen Form was bedeuten, was für mich getan haben, oder weil ich mit ihnen bluts- oder wahlverwandt bin – vulgo: Ahn_innen – sind präsent und Samhain, wie dieser Tag für mich heißt, gehört ihnen, bzw. der Gemeinschaft der Toten mit den Lebenden.
Zu meinen Ahn_innen gehören nicht nur meine verstorbenen Verwandten. Ich zähle unter meine Ahn_innen auch die Lehrer_innen meiner Lehrer_innen, die sensei meiner sensei und die Leute, die mich sonst beeinflußt haben – ob sie es wissen oder nicht; wenn ich meine Ahn_innen ehre, denke ich auch an Maria Callas und Freddie Mercury, an Sally Ride, Gustav Mahler und Johannes Brahms und an die Leute vom Stonewall Inn. Geistige Ahn_innen sind für mich die Toten, an die ich anknüpfen kann, deren Werk ich in der einen oder anderen Form fortführen oder auf dem ich aufbauen will.
In meiner heidnischen Tradition unterstellen wir den Ahn_innen, daß sie ein Interesse an unserem Wohlergehen haben, egal, ob wir die Dinge inzwischen anders sehen und anders machen als sie. An sie zu denken, ihnen an Tagen wie Samhain einen Teller Essen beiseite zu stellen, eine Kerze für sie anzuzünden und die Geschichten zu erzählen, die wir über sie wissen: das ist nur ein Zeichen unserer Dankbarkeit, eine Anerkennung für ihre Unterstützung.
Als Weiterführendes zum Thema empfehle ich diese Podcastfolge von Lucia und Distelfliege über Ahn_innen und diesen Artikel von Starhawk.
Ich lebe meine Spiritualität ziemlich unspektakulär. Dementsprechend „mache“ ich wenig – ich koche vielleicht richtig aufwändig (Kochen und Essen sind für mich überhaupt wichtige Teile von Festen), gehe vielleicht nachher noch einmal mit wachen Sinnen eine große Runde spazieren (oder auch joggen), sinniere über Herbst und Dunkelheit, zünde eine Kerze an, bringe meinen Ahn_innen und Gottheiten ein Glas Wein als Opfer, mache ein bißchen Divination, eine Trancereise und/oder ritze ein paar Runen, singe ein paar Lieder und gönne mir vor allem, mal einen Tag keine mundanen „Erwachsenendinge“ wie Bewerbungen schreiben oder Anträge stellen zu machen.
Drüben auf riesenheim.net habe ich noch mehr über diesen Tag geschrieben.
Hier noch ein Hintergrundartikel zu Halloween in den USA
Euch wünsche ich einen schönen Tag, was auch immer Ihr heute macht. Take care.