Genervte Spiritante ist genervt.

Ich hatte ja Mitte Juni einen Artikel in der an_schläge erwähnt, über den ich mich geärgert habe. Dieser Ärger ist nachhaltig geblieben, und die ganze Zeit trug ich den Wunsch mit mir herum, einen Artikel dazu zu schreiben, der sich gewaschen hat. Nun ist das Notizenmachen für diesen Artikel etwas ausgeufert, und es wird eher eine Artikelserie als ein einzelner Artikel.

Ich bin jedenfalls nicht allein mit meinem Ärger:

Zuerst einmal stehen auch feministische Zusammenhänge heute weitgehend in der materialistischen Tradition der Linken: Wenn etwas nach „spiri“ oder „esoterisch“ riecht, dann ist der Verdacht nahe, eins wolle sich auf ein bequemes, erzbiologistisches Bild vom natürlichen Geschlecht, das schon immer da war und mit dem eine nur ins Reine kommen muß, zurückziehen.

Die Schwierigkeit von Abgrenzungen und Bewertungen

Auch ich bin hin und her gerissen. Das Ding ist nämlich: Ich kann mich von „Esoterik“ nicht sauber abgrenzen, weil der Begriff so schwammig ist, obwohl ich auf dem esoterischen Markt und in seinen Strukturen extrem viel Kritikables sehe. Aber Elemente meiner Praxis werden chronisch mit in diesen Topf geschmissen.

Gerne wird auch pauschalisiert, als sei die unglaubliche Vielfalt dessen, was auf diesem Markt angeboten wird, ein bunter Markt der völlig beliebigen Möglichkeiten. Und ja, wahrscheinlich gibt es tatsächlich die Leute, die vier Wochen lang mal Engelgebete machen, dann zu einer Visionssuche fahren, dann mal ein Jahr lang Jahreskreisfeste begehen, sich dann besinnen, daß sie vor ein paar Jahren (westlich rezipiertes Neo-)Tantra mal cool fanden etc… – aber wie von außen beurteilen, ob eine Sache jemandem etwas bedeutet und viel gibt? Wieviel christlich geprägte Bewertungsstrukturen stecken darin, wenn ich „Orthodoxie“ und Ausschließlichkeit zu einem Kriterium mache, wie valide jemandes spirituelle Tätigkeiten und Ansichten sind? Historisch und global gesehen, ist Synkretismus der Regelfall, und etliche Kulturen haben gar kein Problem damit, wenn jemand mehrere spirituelle Systeme parallel praktiziert.

Meine Wurzeln

Ich bin aufgewachsen in einem Haushalt, der die Connection, später auch die Osho Times abonniert hatte. Ich ging mit 8 Jahren das erste Mal zu einer Meditationslehrerin, und in der Zeit, wo andere das erste Mal kifften, experimentierte ich mit Vipassana und Zazen. Meine Eltern wurden unabhängig voneinander in den 90ern Neo-Sannyasins, nachdem sie schon seit den 80ern mit der Bewegung sympathisiert hatten.

Was in dieser ganzen Zeit wie ein Ostinato präsent war, war die Überzeugung, daß an unserer westlich-industrialisierten Lebensweise nicht alles gut und richtig ist und die Art, wie unsere westlichen Instrustriegesellschaften Dinge tun, nicht die einzige und nicht automatisch und immer die richtige ist.

Ich empfinde diese Wurzeln als Glück, da ich vieles kennenlernen durfte, aber nie in irgendeine Richtung gedrängt wurde; ich hatte keine „religiöse Erziehung“, aber auch keine Verbote in dieser Hinsicht. Ich lernte das Christentum über die Schule und über die klassische Musik kennen; eine recht seltsame Außenperspektive, aus der mir recht schnell klar war: Mein Weg war das nicht; wenn andere den gehen wollen, bitte, werdet glücklich damit, aber laßt mich da raus.

Was mich nervt

Wie ich Asatrú wurde, ist eine andere und lange Geschichte, die ich hier nicht erzählen will. Was mich hier motiviert, ist, daß (wie schon erwähnt) Teile meiner Praxis gerne in diesen „Esoterik“-Topf geschmissen werden und es weh tut, undifferenziert in einem Atemzug mit Pseudo- und Antiwissenschaft, Verschwörungstheorie, Lehren mit eine destruktiven Menschenbild und massiver, unverschämter cultural appropriation genannt zu werden. Nicht-Gelten-Lassen, keinen Raum haben, um falsche Annahmen zu korrigieren, und lächerlich gemacht werden tun weh, gerade wo ich großen intellektuellen Aufwand darein stecke, auch mit meiner Spiritualität keiner inhärent menschenverachtenden Kackscheiße auf den Leim zu gehen und mit meinen multiplen, unabgeschlossenen Weltbildern zu leben.

Mich kekst Esoterik-Kritik an, die mit dem slippery-slope-Argument „Wer an als esoterisch markierte Sache XY glaubt, glaubt auch jeden anderen Scheiß“ arbeitet. Nope nope nope. Nur weil ich Orakelsysteme verwende, glaube ich noch nicht dem Tageshoroskop in der Zeitung.
Wem „Esoterik“ unterstellt wird, der_dem wird gerne auch Leichtgläubigkeit unterstellt. Das muß aber nicht so sein. Ich kenne genug selbstkritische und skeptische Menschen, die Dinge praktizieren, die als esoterisch gekennzeichnet werden.
Es kotzt mich auch an, wenn die Brandmarkung als „Esoteriker_in“ dazu taugt, um Leute in bestimmten Zusammenhängen – z.B. politischen – unmöglich zu machen. Ganz ehrlich, taugt“der_die ist evangelische_r Christ_in“ dazu? Oder „der_die ist praktizierende_r Jude_Jüdin“?

Klotzmaterialistisches Rumgemackere, das keine andere Position außer Atheismus gelten läßt, finde ich zum Kotzen. (Und ja, auch Frauen*/queers können in dieser Beziehung Mackerverhalten zeigen.) Und das, obwohl ich mich bezüglich Bürgerrechtsfragen – z.B. den arbeitsrechtlichen Sonderrechten der Kirchen oder der Frage von Religionsunterricht an staatlichen Schulen – oft genug Atheist_innen verbündet fühle.

Mich kotzt auch die Esokritik an, die sich speziell gegen Wissenssysteme aus nicht-weißen Kulturen richtet und sich gerne in einem lächerlich machenden Gestus gegenüber fernöstlichen Traditionen (z.B. Feng Shui, Akupunktur oder Ayurveda) äußert. (Daß wir hier oft nur verfälschte Teilstücke dieser Traditionen serviert bekommen, gehört auf die Baustelle „cultural appropriation“.) Diese Art von Kritik basiert meist ziemlich unreflektiert auf der Annahme, daß die europäisch geprägte Naturwissenschaft die einzige richtige Art ist, die Welt anzuschauen.

Das Ding mit dem Respekt

Ich weiß, daß es reichlich Menschen gibt, die keinerlei Bedürfnis nach etwas haben, daß eins als göttlich bezeichnen könnte. Oder Menschen, deren Spiritualität vollkommen im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes funktioniert. Meine tut es nur nicht – d.h., sie dazu zu zwingen, daß sie’s täte, hieße, sie in ein viel zu enges Korsett zu zwängen.

Ich respektiere vollkommen, wenn jemand keine Religiosität oder Spiritualität hat und kein Bedürfnis danach hat und damit in Ruhe gelassen werden möchte. Genauso möchte ich aber mit meiner Spiritualität ebenso „out“ sein dürfen wie mit meiner Sexualität: Genauso wenig, wie ich mit jeder Person meine Vorlieben oder Abneigungen bezüglich konkreter Sexpraktiken erörtern muß, muß sich unbedingt jede_r für die Einzelheiten eines Blót, eines spae-Rituals oder meiner Runenpraxis interessieren.

Ich wünsche mir aber, daß meiner Praxis nicht herablassend, abwertend und ignorant begegnet wird. Und das wünsche ich mir genauso für andere nonstandard beliefs und nonstandard spiritualities – egal, ob jemand tibetischen Buddhismus praktiziert, göttinnenspirituell orientierte Jahreskreisfeste feiert, zu Satsang-Events oder Schwitzhütten-Zeremonien geht, Dynamische Meditation, Zen oder Santeria praktiziert, auch wenn keins dieser Dinge im Moment Bestandteil meiner Praxis ist.

Ausblick

Ich will in der kommenden Artikelserie – für die mir noch kein ultrasuperbrillianter Titel eingefallen ist – auf folgendes eingehen:

  • Die Problematik der Definition von „Esoterik“
  • was an Praktiken, die als „spirituell“ und manchmal „esoterisch“ gelabelt werden, für mich empowernd und heilsam ist (nebst möglicherweise noch mehr Begriffsproblemen)
  • was ich selbst an Dingen, die mir in der Kategorie „Esoterik“ begegnet sind, kritisch sehe
  • wie eine Kritik an esoterischen Praktiken und Systemen aussieht, die ich mittrage.

Soviel für heute. Stay tuned!