Ich habe ein besonderes Gehirn.

*Ursprünglich in englischer Sprache erschienen auf meinem niederfrequenten Musikblog [roots & engines](https://rootsandengines.wordpress.com/).*

Ich war schon immer eine langsame Arbeiterin. Ich bin durch die Schule gekommen, indem ich mich meiner angeborenen Intelligenz bedient habe. Auf der Universität geriet ich in Schwierigkeiten, da ich – mir selbst überlassen – nicht besonders gut darin bin, Dinge erledigt zu kriegen und wenn ich nicht Heerscharen von Tricks, Hacks und Strategien anwende, bin ich miserabel in puncto Zeitmanagement. Ich tendiere dazu, zu spät zu kommen und ich habe null Zeitgefühl. Ich bin eine Nachteule. Aber irgendwie habe ich dann doch meinen Uni-Abschluß gebacken gekriegt.

Als ich meinen ersten Job [nach der Uni] antrat, hörten die Dinge auf, so gut zu gehen. Vier Jahre habe ich in unruhigen Teambüros gelitten. Ich habe mir selbst die Schuld dafür gegeben, daß ich so undiszipliniert und unkonzentriert war, während ich vollkommen unterfordert war. Ständig zuviel sensorischem Input ausgesetzt zu sein – Leute redeten und gingen rein und raus, keine Privatsphäre, Telefonklingeln, der ständige Zufluß von Information über Email und Instant Messenger – ließ mich erschöpft zurück, und nicht einmal Kopfhörer konnten mich bei Verstand halten. Feiertage und Urlaub reichten mir nie, und sogar mit einer harmlosen Erkältung fühlte ich mich unfähig zu arbeiten. Meine Gesundheit war ein ständiges Stop and Go.

Im nächsten Job war es etwas besser, aber immer noch dasselbe Phänomen: Ich war ständig krank und fühlte mich die ganze Zeit erschöpft. Ich fühlte mich unfähig, das, was um mich herum vorging, auszublenden, unfähig, Ablenkungen auszusperren, immer alarmbereit und immer mit diesem Gefühl von Exponiertsein, und wenn die Dinge stressig wurden, konnte ich dem Drang nicht mehr widerstehen, mir irgendetwas zu suchen, auf das ich mich leicht konzentrieren konnte … unglücklicherweise hatte das nur sehr selten mit dem zu tun, was ich tun *sollte*.

Seitdem ich diesen Job verloren habe, kämpfte ich mit mit Prokrastination, während ich Pflichtbewerbungen schreibe oder freelance, es fällt mir schrecklich schwer, meine Tage zu strukturieren, ungeliebte, aber notwendige Dinge zu erledigen oder Konzentrationsprobleme zu überwinden. Ich habe oft Chaos im Kopf.

Irgendwann letzten Winter kam mir der Gedanke: *Was, wenn es nicht an mir lag?* Oder eher: Was, wenn ich nicht faul, undiszipliniert und überempfindlich war? Jeder litt doch in Großraumbüros, nicht? Warum war es für mich so viel schwerer? Warum trafen mich Mangel an Projektmanagement, wohlformulierten Aufgabenstellungen, klaren (und realistischen) Zielen und ungestörter Zeit so viel schwerer? Warum hatte ich so eine niedrige Toleranz für Langeweile? Warum war es so schwer für mich, etwas erledigt zu kriegen, wenn ich keine intrinsische Motivation hatte (d.h. eine Aufgabe für mich nicht wichtig und in sich interessant war)? Denn offensichtlich konnte ich mich ja konzentrieren und gute Leistung bringen, wenn mich etwas genuin interessierte. Warum also konnte ich mich nicht einfach zusammenreißen? Was, wenn das kein Charakterfehler war – sondern eine andere Gehirnkonfiguration? Konnte am Ende AD(H)S dahinterstecken?

Ich fing an, zu lesen, zu recherchieren, mit Betroffenen, die ich kannte, zu reden. Irgendetwas machte *klick*: Viele dieser Beschreibungen klangen viel zu vertraut. Ich wartete sechs Wochen auf einen Termin beim Spezialisten, dann noch einmal sieben Wochen auf einen zweiten Termin, und dann hatte ich eine vorläufige Diagnose: Ja, ich lebte mit ADHS.

Je mehr ich über meine Störung1 lerne, desto mehr verstehe ich meine Bedürfnisse und desto nachsichtiger kann ich mit mir selbst umgehen, wenn ich mal wieder eine Stunde damit verloren habe, irgendeiner auf einmal furchtbar interessanten Spur nachzugehen, oder wenn es mich eine Stunde kostet, das Haus zum Einkaufen zu verlassen, oder wenn ich Schwierigkeiten mit Entscheidungen und Prioritäten habe, oder wenn ich prokrastiniere oder Chaos verbreite, oder wenn dreißig Dinge gleichzeitig in meinem Kopf passieren und ich nicht weiß, womit ich anfangen soll und am Ende mein tumblr-Dashboard hinunterscrolle. Meine Bewältigungs- und Kompensationsstrategien waren wahrscheinlich genug bis in meine ersten Jahre an der Uni, und meine Schwierigkeiten damit, akademische Aufsätze zu schreiben, die erste Manifestation.

AD(H)S ist eine angeborene, lebenslange Störung, die ihre Wurzeln in einer von der Norm abweichenden Gehirnentwicklung hat. Manche Areale sind weniger aktiv als bei neurotypischen Personen, andere sind anders entwickelt oder funktionieren anders.
Ich lerne vielleicht Bewältigungsstrategien und verbessere meine Ressourcen, aber die zugrundeliegende Struktur wird sich nicht ändern. Medikation kann vielleicht helfen, auf manchen Gebieten besser klarzukommen, aber sie wird nicht auslöschen, was ich bin. (Derzeit lebe ich ohne Medikation.) Entspannung und Meditation helfen – aber sie sind keine Wunderwaffen (Meditation neigt dazu, meine Sensitivität zu erhöhen, und eine gute Entspannung kann dazu führen, daß ich hinterher nicht mehr die Energie habe, dem alltäglichen Trott ins Auge zu sehen). Und ich bin schon ein Zeitmanagement-Ninja, ich habe wahrscheinlich jede Aufgaben- und Selbstmanagement-Methode probiert, von der du (noch nicht) gehört hast. Ich habe Bedürfnisse, die nicht wegdiskutiert werden können. Und ich habe Stärken, die aus meiner speziellen Gehirnkonfiguration entspringen: eine sensible Wahrnehmung, eine starke Imagination, Neugier, die Fähigkeit, im Moment zu leben, Liebe zum Lernen und eine riesige Kreativität.

Ich arbeite noch daran, mir nicht die Schuld zu geben und bessere Workarounds zu finden, als mich selbst härter anzutreiben. Ich habe mich nämlich einen großen Teil meines erwachsenen Lebens zusammengerissen, und meine Mich-Zusammenreiß-Kapazität ist erschöpft. Ich könnte ja zur Abwechslung mal daran glauben, daß ich es wert bin, nett zu mir selbst zu sein.

Übrigens: Ich werde auch dieses Jahr wieder bei [50/90](http://fiftyninety.fawmers.org) dabei sein!

  1. Per se betrachte ich AD(H)S nicht als Krankheit oder Störung, es ist jedoch die Gesellschaft, in der ich lebe und ihre Erfordernisse, die dafür sorgen, daß ich doch hin und wieder darunter leide; ich glaube, daß ich unter anderen Umständen, z.B. in einem stärker künstlerischen Beruf, viel weniger oder gar nicht unter meiner Veranlagung leiden würde.